Hoffentlich beschützt er uns. Er, dieser überdimensionale Christus, der seine Arme über eine der berühmtesten, der schönste, aber auch gefährlichsten Städte unseres Planeten ausbreitet: Rio De Janeiro. 3.463 Mordopfer gab es hier 2014 im Zeitraum von Januar bis August zu beklagen. Besonders oft wird in Rios Favelas, den „Shantytowns“, den Elendsvierteln, getötet. Wir besuchen heute eins davon: Santa Marta.
Imbissbuden, Supermärkte und der ein oder andere Waschsalon säumen den Wegesrand, als wir die Rua Voluntários da Pátria im Stadtteil Botafogo entlanglaufen. So idyllisch wie die Gässchen einer italienischen Kleinstadt an der Amalfi-Küste, nein, eigentlich viel idyllischer und authentischer. Immer präsent: der von schrillen Hupen und lärmenden Kleinlastern begleitete Feierabendverkehr – und: der stets sichtbare Christus.
Nur jetzt verschwindet er hinter sandfarbenen Hochhäusern. Ausgerechnet jetzt, als wir die ersten Höhenmeter des Morro Santa Marta erklimmen, wo eine von Rios vielen berühmten Favelas den Hügel hinaufwächst.

Der Blick auf den Christo Redentor von unserem Hostel. Foto: Roman Domes

Mit der Fußball-WM sollte der Frieden in die Favelas kommen
Ja, spätestens beim Wort Favela in Kombination mit Rio de Janeiro sollte man aufmerken, hatte das Land doch in der Vergangenheit massive Probleme in diesen Armutsvierteln. Vor der Fußball-WM 2014 haben die Behörden in Rio versucht, aufzuräumen – mit mäßigem Erfolg. Dennoch: Die Favela in Santa Marta gilt als relativ sicher und befriedet. Das heißt, dass es dort – offiziell – keine Waffen mehr gibt. Auch der Drogenhandel soll eingedämmt worden sein. Die Polizei übernahm 2008 die Kontrolle, vorher herrschten in der Favela Bandenkriege, Kriminalität und Gewalt. Davon ist auf den ersten Metern in Santa Marta natürlich nichts mehr zu sehen.
Unser Guide Christian geht voraus. Er stammt direkt aus Rio, er ist ein echter Carioca. So nennt man die Einwohner der 6,5-Millionen-Metropole. Übersetzt bedeutet das „Haus des weißen Mannes“ – ein Hinweis auf die portugiesischen Eroberer. Christian hat sein T-Shirt der Hitze wegen abgestreift. Auf seinem Rücken ist er auf einmal wieder zu sehen: der Christus. Als rückenfüllendes Tattoo ist er an diesem Nachmittag unser wichtigster Blickfang, unser Beschützer. Einmal in einer Favela verlaufen, könnte es ohne Hilfe Stunden dauern, wieder rauszufinden.
Von Kopfsteinpflaster am Fuße des Morro Santa Marta, der noch mit dem Auto halbwegs befahrbar ist, wechselt der Untergrund auf festen Beton – in Form von Treppen. Vielen Treppen. Egal, mit was du hier unterwegs bist, hoch in die Favela kommst du nur zu Fuß. Und du solltest fit sein, denn Santa Marta ist steil. Die bunten Häuserfronten sehen aus wie aufeinandergestapelte Schuhkartons. Ohne Kondition kannst du das gar nicht bewundern, du bist viel zu sehr mit Atmen beschäftigt. Oder damit, dir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Und trotz aller Strapazen bei 36 Grad: Die Einblicke in eine für Westeuropäer unbekannte Welt sind die Quälereien auf jeden Fall wert.

Steil hinauf geht es in der Favela Santa Marta. Foto: Roman Domes

Wunderschöner Gestank
Je näher wir dem Himmel kommen, desto enger werden die Gässchen, desto schmaler werden die Treppenstufen, desto mehr brennen die Muskeln in den Beinen. Links türmt sich Bauschutt in die Höhe, ein paar Jungs spielen mit zerbrochenen, übrig gebliebenen Holzlatten. „Hier entlang, da geht’s zur Seilbahn“, ruft Christian der Gruppe halb auf spanisch, halb auf englisch, zu. Diese Seilbahn führt mit ein paar Zwischenstopps vom Fuße des Berges zu einem berühmten Aussichtspunkt, dem „Mirante Dona Marta“. Doch als wir an der Seilbahn ankommen, erfahren wir von einem Carioca, der lässig an der Gondel lehnt, dass die Bahn defekt ist. „Okay, dann gehen wir eben hoch“, ruft Christian lächelnd in eine Runde erschöpfter Gesichter. Einverstanden.
An einer weiteren steilen Treppe führt ein kleiner Kanal entlang in Richtung Tal. Drinnen fließt ein undefinierbares Rinnsal hinab, es stinkt beißend. Was ist das? „Das ist die Kanalisation, oder das, was sie hier als solche bezeichnen,“ erklärt Christian, wieder blitzen seine Zähne hervor. Man könnte meinen, er könne gar nicht ernst schauen, und das ist nicht als Vorwurf gemeint. Für ihn ist das normal; er kennt all das. Er lebt hier. Wir nicht. Hier zeigt sich das wahre Gesicht Brasiliens: arm, muffig, wunderschön – passt nicht zusammen, könnte aber treffender nicht sein.

In der Favela Santa Marta wohnen mehr als 10.000 Menschen auf engstem Raum. Foto: Roman Domes

„They don’t care about us“ – jetzt schon, zumindest ein bisschen
An einer Weggabelung trotten wir unserem Guide hinterher; er geht nach links in eine sehr enge Gasse, die zu allem Überfluss auch noch dunkel ist. Wir kommen an einem kleinen Souvenir-Lädchen vorbei, das Handtücher in Landesfarben in die offene Tür gehängt hat. Direkt dahinter, im grellen Sonnenlicht kaum erkennbar: eine Aussichtsplattform. In der rechten Ecke, im Schatten, schauen drei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten recht finster drein. Wozu der Aufriss? Und dann entdecke ich es, beziehungsweise ihn. In Lebensgröße; ich hatte ihn mir größer vorgestellt, den King of Pop: Michael Jackson steht in Blei gegossen auf diesem Platz, die Arme von sich gestreckt und zu einer Faust geballt. Hinter ihm breitet sich Rio De Janeiro aus. Im Vordergrund hangeln sich die Bruchbuden der Favela den Morro hinab.
Vielleicht war das auch ein Grund für Michael Jackson, das Video zu seinem Song „They don’t care about us“ hier zu drehen. Damals, 1996, als sich wirklich noch niemand für die Menschen in den Favelas interessierte. Das ist jetzt vorbei, die Stadt Rio versucht zwar nur halbherzig, den Bewohnern der armen Stadtteile, wie etwa Santa Marta, fließend Wasser, Strom und eine vernünftige Kanalisation zu finanzieren. Aber Rio lebt vom Tourismus, hängt von ihm ab. So auch die Favelas, wobei Santa Marta mit etwa 10.000 Bewohnern zu den kleineren gehört.
So klein kommt sie dir aber gar nicht vor, wenn du die, gefühlt, 50.000. Stufe erklimmst, und dann meinst, endlich oben angekommen zu sein. Bist du aber nicht, es sind nochmal so viele Treppen. Insgesamt 788 Stück. 788 Schritte bis zur Erlösung. Um dich herum spielen die Kinder Fußball, mitten im Staub, zwischen aufgehängter Wäsche. Ihre Mütter schimpfen mit ihnen oder feuern sie an – du weißt es nicht so genau, wenn du kein Portugiesisch kannst, oder dein Spanisch eingerostet ist.

Sie haben ihm ein Denkmal gesetzt, mitten in Santa Marta: Michael Jackson. Foto: Roman Domes

Haben wir in der Favela als reiche Gringos ein schlechtes Gewissen?
Ganz oben angekommen, finden wir einen mit hohen Zäunen befestigten Fußballplatz. Dort spielt in der Hitze gerade niemand. Ich verständige mich mit einem kleinen Mädchen per Ein-Wort-Sätzen auf Portugiesisch. Sie erzählt mir, dass Michael Jackson damals mit seinem Hubschrauber auf diesem Fußballplatz gelandet sei. Dann will sie uns ein gekritzeltes Bild für zwei Reais verkaufen – nicht mal ein Euro. Sehr gerne nehmen wir auch zwei. Vielleicht wegen unseres schlechten Gewissens, vielleicht weil wir das Andenken mögen, vielleicht aber auch nur, um ein bisschen zu helfen. Oder für das Gefühl, geholfen zu haben. Ich weiß es nicht genau. In einer Favela fühlst du dich schon mit einer 10-Euro-Uhr reich.
Eine Uhr trägt Christian nicht. Seinen Christus hingegen bereits acht Jahre lang – seit er 18 ist. Dank ihm sind wir heil den Morro Santa Marta emporgestiegen, und dann endet hinter einer Polizeiwache plötzlich der Häuserbewuchs. Ein Feldweg scheint den Berg hinabzuführen. „Kommt mit, ich zeige euch etwas besonders Schönes“, flüstert Christian. „Wir müssen nur durch das Gestrüpp da drüber klettern.“ Au weia, auch das noch.
An morschen Ästen und herausstehenden Felsen hangeln wir uns die gut 50 Meter durch den Busch. Dann stehen wir auf einer kleinen Lichtung, weit über den Dächern von Rio De Janeiro. Spektakulär wäre als Beschreibung noch weit untertrieben.

Ein wunderbarer Blick in Richtung Botafogo, Hafen und Zuckerhut. Foto: Roman Domes

Im Osten erhebt sich aus den Wellen des Atlantiks der Zuckerhut, die Seilbahn, die hinauf führt, ist selbst von hier noch zu sehen. Mittig durchzieht eine Flut aus bunten Hütten und grauen Hochhäusern das Blickfeld. Die Augen bleiben an einer Stelle hängen. Dort stehen keine Gebäude, es sieht aus wie ein Steinbruch – mitten in der Stadt. „Das ist der Cemitério, mein Freund, der Friedhof,“ Christian schaut zum ersten Mal heute ernst zu mir herüber. „Mein Großvater liegt dort begraben.“ Er klopft mir auf die Schulter, wir zünden uns eine Zigarette an, und wir philosophieren sitzend auf den Hügeln von Santa Marta über die Freuden, die uns unser Leben bereitet. Rio ist eine davon, die wir gemeinsam haben.
Die Sonne wird im Westen hinter einen Berg gedrückt, den sie hier Corcovado nennen, den Buckligen. Auf dem Berg steht mit ausgebreiteten Armen, den Kopf leicht nach unten geneigt, den Rücken aber gerade, der 38 Meter hohe Cristo Redentor, Christus der Erlöser. Er hat uns heute beschützt. Vielleicht ist so ein Tattoo keine schlechte Idee für die Zukunft.

Links der Zuckerhut, rechts der Christo. Rio fasziniert ab der ersten Sekunde. Foto: Roman Domes

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