Für die Einwohner von Sài Gòn muss der 1. Mai 1975 ein Desaster gewesen sein – und zugleich eine Erlösung. Nach mehr als 20 Jahren Krieg, zehn davon mit amerikanischer Beteiligung, überrennt die Nordvietnamesische Armee den tapfer kämpfenden, aber letztendlich völlig hilflosen Süden.
Die US-Armee ist zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre weg und hat den Bündnispartner seinem Schicksal überlassen. Am 1. Mai 1975 endet der, wie sie in Vietnam sagen, "Amerikanische Krieg", mit der Eroberung Sài Gòns, dem Juwel des Südens, der Stadt, die wie keine zweite vom amerikanischen Kapitalismus geprägt wurde und heute wieder geprägt wird. Dem Staatssystem Kommunismus zum Trotz. Kann das funktionieren?
Die 10-Millionen-Metropole, einst Herzstück von Frankreichs Kolonialzeit
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts besetzten die Franzosen Sài Gòn unter dem Vorwand, französische Staatsbürger würden verfolgt. Wie in vielen vietnamesischen Städten ist auch in Sài Gòn der Einfluss Frankreichs zu spüren, sei es bei der Architektur, beim Essen oder auch bei einigen Straßennamen. Ein kilometerlanger Straßenzug heißt zum Beispiel "Pasteur", benannt nach dem französischen Biochemiker Louis Pasteur.
Mit den Franzosen kamen auch Luxus-Boutiquen nach Sài Gòn. Irgendwie mussten ja die dezent dekadenten Bedürfnisse der Europäer und reich gewordenen Vietnamesen befriedigt werden. Eine Sache, die während des Vietnamkriegs ähnlich ablief: Zehntausende amerikanische Soldaten wohnten in der Stadt. Die Wirtschaft boomte. Mit dem Boom erlangten allerdings auch Korruption und Prostitution ihre Hochphasen. Nach dem Krieg lag die Wirtschaft am Boden, Vietnam hungerte.
Seit den 1980er-Jahren blüht Ho-Chi-Minh-Stadt wieder auf. Millionen Menschen ziehen vom Land in die Stadt, auf der Suche nach einem erfüllteren Leben, das aus mehr besteht als körperlich zermürbender Feldarbeit. Denn auch 2020 gilt: Mehr als drei Viertel der Vietnamesen arbeiten noch immer in der Landwirtschaft. Mittlerweile zählt Ho-Chi-Minh-Stadt offiziell neun Millionen Einwohner, die Dunkelziffer dürfte eher bei elf bis 13 Millionen liegen.
Linienbus ins Phường 17, Vietnams Uber, zu den "Café Apartments"
Der Flughafen Tân Sơn Nhất in Ho-Chi-Minh-Stadt ist der größte internationale Flughaften Vietnams. Unsere Boeing 737-800 von Vietnam Airlines landet pünktlich um die Mittagszeit. Während es in Đà Nẵng morgens regnete, drückt in Sài Gòn die Mittagshitze. 34 Grad. In den kommenden Tagen ist keine Abkühlung in Sicht. Auch okay, gefroren haben wir ja im Norden schon genug. Ab in den Bus in Richtung Stadtmitte. Der Busfahrer sagt uns, dass wir für unsere Rucksäcke ein zusätzliches Ticket ziehen müssen – macht statt 6.000 Dong dann 12.000 Dong pro Person pro Fahrt, nicht mal 50 Cent.
Ganz zentral nächtigen wir nicht, sondern ein paar Meter fernab des Touri-Zentrums, im Phường 17, bei Nicolette im Nắng Homestay. Das Homestay zu finden war gar nicht mal so einfach. Es liegt in einem Labyrinth aus Seitengässchen, die Haustür ist von einem meterhohen Stahltor gesichert. Direkt nebenan werkeln vier Jungs in einer Motorrad-/Rollerwerkstatt. Was wir (noch) nicht wissen: Sie fangen damit um fünf Uhr morgens an. Testfahrten inklusive.
Instagram entpuppt sich letztendlich als Reiseführer und bringt uns zu unserem ersten Ziel, den Café Apartments, Hausnummer 42 auf der Nguyễn Huệ, einer kilometerlangen Flaniermeile im Herzen Sài Gòns. Die Café Apartments sind ein quaderförmiger Betonblock in Einfachst-Bauweise.
The Café Apartments: Früher Militärs, heute Millenials
Errichtet in den frühen 1950er-Jahren, diente 42 Nguyễn Huệ zunächst als Heimat für hochrangige südvietnamesische Offiziere, später wohnten amerikanische Generäle in den Apartments. Heute sind die Café Apartments einer von Sài Gòns hipsten Hot-Sports. Schnell wird klar, warum: Mehr als 30 Cafés, Restaurants, Boutiquen und Mini-Shops quetschen sich auf acht Stockwerke.
Der Eingang versteckt sich neben einem großen Buchladen, rechts und links parken zig dutzend Roller. Wir haben die Wahl: Entweder bezahlen wir einem grantig dreinschauenden Wärter, der auf einem Plastikstuhl lümmelt, 3.000 Dong für die Fahrt mit dem Aufzug. Oder wir nehmen die Treppe. Klarer Fall. Wir gehen zu Fuß.
Im "Downtown" bestellen wir uns zwei unglaublich leckere Curries. Ich gönne mir nach Jahren mal wieder ein Sprite. Anschließend ein Cà phê sữa đá (Vietnamesischer Eiskaffee) auf dem Balkon des "Saigon Oi" – Aussicht auf die Nguyễn Huệ und diverse Wolkenkratzer inklusive.
Armut in Vietnam: Man muss genau hinschauen
Auf den ersten Blick sieht Sài Gòn sehr clean aus, sehr westlich, aufstrebend, immer wach, das New York Südostasiens. Auch die Armutsstatistik weist Vietnam als eines der fortschrittlichsten Länder auf dem Kontinent aus. Von 1996 bis heute ist der Anteil der Bevölkerung, die unter der nationalen Armutsgrenze leben muss, rapide gesunken: von mehr als 53 Prozent auf weniger als 10 Prozent. Als arm gilt man in Vietnam nach Definition der Weltbank, wenn man von weniger als 3,50 US-Dollar am Tag leben muss.
So positiv die Entwicklung auch ist, ein paar Herausforderungen bringt sie mit sich. Geht es den Städtern immer besser, leben noch immer viele von Armut Betroffene auf dem Land: im zentralen Hochland rund um die Provinz Tây Nguyên, im Mekong-Delta im Süden des Landes und im Norden rund um die Provinzen Hà Giang und Cao Bằng. Insgesamt trifft Armut die ethnischen Minderheiten besonders hart: Laut Statistik sind fast als 60 Prozent aller Armen Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe.
Aber diese Menschen, die fast überhaupt nichts besitzen, die sieht man auch hier in Sài Gòn. Sie fallen auf, weil sie abends nicht an den kleinen Tischchen an der Straße sitzen und plaudern. Sie sind meistens alleine, sitzen, liegen und schlafen auf einem Stück Karton. Abgemagert, oft schon etwas älter, graue Haare, eingefallene Gesichter, froh über ein paar tausend Dong, die man als Wechselgeld von der Ticketverkäuferin im Bus bekommen hat.
Sie haben häufig keine Berufsausbildung, kamen voller Hoffnung in die Großstadt, hangeln sich von Gelegenheitsjob – etwa am Fischmarkt – zu Gelegenheitsjob. Oft fristen sie ihr Dasein ob der rasant gestiegenen Mietpreise auf der Straße. Anders als bei uns in Deutschland gibt es in Vietnam kein vergleichbares soziales Auffangnetz. In Sài Gòn fällt das besonders auf, weil die Kluft zwischen arm und reich so markant ist.
Im Norden des Landes, in Hà Nội oder in Ninh Bình habe ich eigentlich gar keine Menschen gesehen, die auf der Straße leben mussten. Andererseits habe ich auch in keiner anderen Stadt, die ich bisher weltweit besucht habe, so viele Mercedes-Maybachs gesehen wie in Sài Gòn. Soziale Ungleichheit – ein Phänomen, das in Vietnam trotz sinkender Armut immer weiter zunimmt.
Ein Bier, ein Cider und der "Saigon Supersound"
Spätabends nehmen wir die Buslinie 3, raus aus den Districts am Fluss, zurück ins Homestay. Im ständig wild piependen und hupenden Bus bekommen wir einen Platz zugewiesen. Dann zahlen wir jeweils 3.000 Dong für das Ticket. Es ist grausam eng für Europäer mit einer Körperlänge von mehr als 1,80 Meter, aber witzig. Die einheitlich in hellblauen Uniformen gekleideten Frauen, die für die öffentlichen Verkehrsmittel in Sài Gòn arbeiten, lachen, zeigen sich Videos auf ihren Handys. Sie freuen sich auf ihren Feierabend, das ist ihre letzte Fahrt.
An der Bushaltestelle Cầu Kiệu steigen wir aus, wollen noch wichtige Dinge besorgen: Bier und Cider. Der VinMart hat schon geschlossen, aber dann entdecken wir noch eine ältere Frau, die mit ihrem Hund vor ihrem Lädchen sitzt. Sie hat eigentlich schon geschlossen, macht für uns aber eine Ausnahme. Für zwei Flaschen Wasser, ein LaRue-Bier und ein Cider zahlen wir 70.000 Dong, knapp drei Euro. Es ist mein letzter kompletter Tag in Sài Gòn, morgen Abend geht der Flieger um 23:55 Uhr. Auf der Dachterrasse machen wir es uns in der Abendhitze gemütlich. Aus der Bluetooth-Box trällert Carol Kim ihr weltbekanntes "Sài Gòn Oi!".
Sài Gòn und seine Highlights erkundet man am besten zu Fuß
Wer Ausdauer hat erkundet Sài Gòn zu Fuß. Aber Obacht: Viele Vietnamesen tragen Atemschutzmasken – und das nicht erst seit Corona. Den Grund spürt man schnell als permanentes Kribbeln in Nase und Augen: Luftverschmutzung, Feinstaub, Grobstaub, gemischt mit dem Geruch von heißem Asphalt und den kleinen Imbissen am Straßenrand.
Apropos Imbiss: Beliebt ist vor allem bei Touristen der Benh Thanh Street Food Market. In einer Lagerhalle drängen sich zahllose Essensstände mit noch zahlloseren Leckereien. So richtig authentisch ist er nicht, aber gut essen kann man dort allemal. Oft spielt eine Live-Band, und wenn nicht, dudelt vietnamesischer Pop durch die Lautsprecher. Im Normalfall hat man auch genug Platz zum Sitzen, es sei denn, hinter einem macht sich ein amerikanischer Bodybuilder breit. Dann nicht.
Das letzte Abendmahl gibt's bei Phở 1954
Die beste Phở finden wir ein paar Straßen weiter – bei Phở 1954, in der 31 Trương Định, Phường Bến Thành. Als wir hinschlendern, sitzen der Koch und ein Grab-Fahrer auf den Stufen und rauchen. Grab liefert in Vietnam auch Essen aus, quasi eine Art Lieferando. Der Fahrer grinst uns an und sagt: "Very delicious, best Phở in town!" Er schnippt seine Kippe weg, zieht den Helm auf, packt die einzelnen Plastikdosen in seine Kiste, schnallt sie am Roller fest und rattert davon.
Wir bestellen zwei Phở Gà (mit Hähnchen), halb auf englisch, halb auf vietnamesisch, was dem Koch mit seinen durchdringenden Augen ein kleines Lächeln abringt. Sorgfältig bereitet er die Suppen vor, schneidet Frühlingszwiebeln, Kräuter und die Hähnchenbrust. Alternativ hätte es noch die Schenkel im Angebot. Mit einem großen Schöpflöffel lässt er die Nudeln kurz in das siedende Wasser hängen, hebt sie nach ein paar Sekunden dem Topf, lässt sie abtropfen und dann in die Bowl fallen. Danach folgen Kräuter und Fleisch, fein säuberlich im Suppenteller drapiert. Dann greift er zum schweren Metallkessel mit der köchelnden Brühe und gießt sie in die Schalen. Es dampft. Es riecht fantastisch.
Zusammen mit einem ganzen Teller voller Thai-Basilikum, Koriander und weiterer, für mich nicht erkennbarem Grünzeugs wird mir meine vorerst letzte Phở in Vietnam serviert. Nicht nur deshalb schmeckt sie überirdisch gut. Ein paar Chilis in die Brühe, ein bisschen Grün – in Kombination mit dem zarten Fleisch ein Traum an Geschmacksnuancen, von frisch-herb bis zu leicht süßlich, erdig und scharf. Das perfekte letzte Abendessen in Vietnam.
Hẹn gặp lại, Việt Nam – bis bald!
Ein letztes Mal steige ich in den Bus mit der giftgrünen "3", die grell in der Windschutzscheibe leuchtet, und wir fahren zurück ins Phường 17. Dort stehen meine gepackten Rucksäcke schon bereit. Noch schnell unter die Dusche hupfen und danach trotz der 30 Grad draußen eine Jeans anziehen – in Gedanken bereite ich mich schon auf Deutschland vor. Dort hat es Ende Februar ganze 27 Grad weniger. Das Handy ist geladen; nach acht Stunden hat sich mein Tablet auch endlich "Platoon" aus dem lahmenden WLAN gezogen. Tränenreicher Abschied.
Dann marschiere ich im Sài Gòn der Nacht zur Bushaltestelle. Ich lächle, während meine Ohrstecker Phương Dungs "Đố Ai" ins Ohr spielen. An der Bushaltestelle habe ich wieder WLAN. Ich verschicke noch ein paar WhatsApp-Nachrichten. Und warte. Die schier endlose Schlange an Rollern, Autos, Lastwagen und Busse cruist an mir vorbei. Dann kommt er, der Bus. Ich winke, er hält an. 12.000 Dong kostet die rund 20-minütige Fahrt. Endstation der Linie 109: der Flughafen Tân Sơn Nhất. Cảm ơn, Việt Nam! Danke für diese tolle Zeit. Ich komme wieder. Versprochen.