"Viele Menschen, ihr werdet in Hội An überall viele Menschen sehen!", prophezeite Alena, unsere rollerfahrende Bekanntschaft aus Ninh Bình. War irgendwie klar – Hội An ist quasi schon immer Vietnams Touri-Hotspot. Im Vietnamkrieg blieb sie größtenteils von Kampfhandlungen und Bomben verschont. Man sagt, dass sich die Stadt seit 200 Jahren in ihrer Architektur kaum verändert hat. Das wollen wir uns nicht entgehen lassen. Also auf nach Hội An!
"Krieg und Frieden" erreichen wir zu Fuß
Mit dem Saigon Supersound in meinem Ohr trudelt unser Local Bus nach einer etwa einstündigen Fahrt in Hội An ein. Wir steigen nach kurzer allgemeiner Verwirrung ("Ist das hier schon der Busbahnhof?") aus. Die Sonne steht am höchsten Punkt und brennt auf die sandige Straße. Sie flirrt vor Hitze. Wir beschließen trotzdem, den Weg zum Homestay "War & Peace" zu Fuß zurückzulegen, auch wenn uns ein paar geschäftstüchtige Xe Ôm-Fahrer am Busbahnhof eindringlich vor dem "langen Weg" warnen. Không, cám ơn, nein, danke.
Wir kreuzen die Hauptstraße nach einem Mobi-Home-Bus, der eine riesige Staubwolke hinter sich herzieht, und kommen auf ein schmales Sträßchen. Ruckzuck legt sich der Lärm. Mit unseren Rucksäcken bepackt schlendern wir an einem kleinen Tempelkomplex vorbei und an einem provisorischen "Steinbruch": Zwei Männer stehen auf den stahlbetonigen Überresten mehrerer Häuser und hämmern sie klein. Ich schwitze schon beim Vorbeigehen.
Ein Moped knattert über den Feldweg, es riecht nach Zweitakter. Ich habe meinen "Hach, ist das alles idyllisch"-Moment. Vor uns das kieselsteinige Asphaltband, das sich in ein Häufchen zweistöckiger Häuser windet, rechts der bunte Tempel, links grast ein Wasserbüffel im Feld. Der Wind kühlt meine klebrige Haut. Im Dorf sehen wir Metalltische am Straßenrand, fein säuberlich mit Bambusstreifen bedeckt. Darauf trocknen jede Menge, wie sich später herausstellen sollte, Nudeln, die es nur in Hội An gibt.
Wir laufen erst mal an unserem Homestay vorbei. So einfach ist "War & Peace" nicht zu finden, es versteckt sich hinter einem hohen grünen Stahltor, Hausnummer 131 auf der "Hauptstraße" Hùng Vương. Dahinter parken links Fahrräder, rechts stehen ein Roller und die wenigen Schuhe der anderen Gäste. Beim ersten Hineingehen vergessen wir, unsere auszuziehen – Anfängerfehler. Betrete niemals ein Wohnhaus in Vietnam mit deinen Straßenschuhen; so viel anders als bei uns in Deutschland ist es ja auch nicht.
Krieg und Frieden. Klingt martialisch, beschreibt aber das "Theme" des Homestays von Gastgeberin Duyen am besten. Relikte aus dem Vietnamkrieg, keine Ahnung, ob sie echt sind oder nicht, "schmücken" die Räume. Direkt hinter dem Eingang steht eine über zwei Meter große Bombenattrappe (?!) mit ausgeklappten Retarder Fins. Ich wette 1 Million ... ähm, Dong, dass es nirgends ein zweites Homestay wie dieses gibt. Duyen und ihre Assistentin Nhi und ihr Hund heißen uns herzlich willkommen; und in unserem Zimmer steht eine AK-47. Im Glasschrank. Herausnehmen lässt sie sich nicht. Besser ist das.
"Komm, lass uns mit dem Radl fahren"
Ein großer Vorteil von Hội An ist die Größe der Stadt: Mit knapp 150.000 Einwohner ist sie winzig im Vergleich zu Riesen wie Hà Nội oder Ho-Chi-Minh-Stadt. Bedeutet im Umkehrschluss: Mit dem Fahrrad ist alles erreichbar. Unser Homestay hält zwei Gratis-Räder parat, gänzlich unbewaffnet und dennoch hochpolitisch. Denn die beiden Räder sind von Diamant, einer deutschen Firma mit Sitz in Chemnitz, die seit des Vietnamkriegs Fahrräder nach Vietnam exportiert. Zunächst für den kommunistischen Norden, auch als Kriegsgerät und nach 1975 für das kommunistisch vereinte gesamte Land.
Ihrem Zustand nach zu urteilen, sind unsere beiden Räder schon mindestens 40 Jahre in Vietnam. Alles klappert, die Bremse ist ein Hebel ohne Wirkung, der Sattel durchgesessen und bequem wie ein Karstfelsen. Es ist großartig. Sogar mit orkanartigem Gegenwind, der uns gelegentlich beinahe zum Stillstand bringt. Die Wettervorhersage hat Regen und Gewitter vorausgesagt, und schaut man Richtung Westen, sieht man dunkelgraue Wolkentürme, die an den Bergen rund um die Tempelanlage Mỹ Sơn festhängen – etwa 50 Kilometer von Hội An entfernt. Man sieht auch einen Reisbauern, der in seinem Reisfeld kniet und sich um die noch kleinen Pflanzen kümmert.
Die schönsten Flecken in Hội An liegen nicht nur im Zentrum
Vor rund 300 bis 400 Jahren, also im 16. und 17. Jahrhundert, galt Hội An als wichtigster Hafen Vietnams. Franzosen und Japaner nutzten Hội An als Umschlagplatz für Seide, Bambus und allerlei weitere Güter. Als Problem stellte sich der feine Sand heraus, der den Thu Bồn-Fluss im Laufe der Zeit immer mehr versanden ließ. Mit der Folge, dass größere Schiffe nicht mehr anlegen konnten.
Hội An verlor schnell an Bedeutung; aus dem Handelszentrum wurde eine Stadt ohne große Zukunft. Das hatte allerdings den Vorteil, das sie im Vietnamkrieg (oder "amerikanischen Krieg") verschont wurde – und mit ihr ihre Architektur. Fast 1.000 Stätten zählen in Hội An zum UNESCO-Weltkulturerbe. Und it's easy to see why.
Das Stadtzentrum ist vom Thu Bồn durchzogen, rechts und links des Flusses säumen Cafés, Straßenstände, Restaurants und Modehäuschen das Ufer. Kein Wunder, warum es auch das "Venedig Vietnams" genannt wird. Insbesondere bei Nacht ist es ein wahres Spektakel. Zeit für Cao Lầu, die kulinarische Spezialität in Hội An.
Echtes Cao Lầu gibt es nur in Hội An
Bei Cao Lầu handelt es sich um ein Gericht, das so nur in Hội An zu bekommen ist. Es besteht hauptsächlich aus Reisbandnudeln, Salat, geschmortem Schweinefleisch und frittierten Nudel-Chips. Dazu kommt noch die Soße, ein Gemisch aus Sojasoße, Zucker und fünf Gewürzen, "xá xíu" genannt. Das besondere sind die Nudeln, deren Rezept angeblich nur eine handvoll Familien in Hội An kennt.
Die gelblich-braune Färbung erhalten die Nudeln, weil der Teig mit der Asche eines Amaranth-Baums vermischt wird, der am Cửa Đại-Strand wächst. Für nur ein bisschen mehr als einen Euro bekommt man ein an geschmacklicher Vielfalt kaum zu übertreffendes Mahl, das – natürlich – an der Uferpromenade Hội Ans am besten schmeckt. Genau wie das Eis danach.
Meinen Frieden finde ich am Wasser – und auf dem Acker
Schon bei "Top Gear" waren Clarkson, Hammond und May fasziniert von der Schönheit Hội Ans, dem Schauspiel bei Vollmond, bei dem Einheimische und Touristen zigtausend Laternen auf dem Fluss schwimmen lassen. Trotz erster Corona-Einschränkungen (keine Chinesen!) ist es abends voll im Zentrum. Aber: Vietnam ist klein, denn wir sehen ein Pärchen wieder, das wir vorher in der Lan Ha Bay auf unserer schwimmenden Insel getroffen haben.
Einsam und verdammt schön wird es in Hội An erst, wenn man die eigentliche City verlässt. Von unserem Homestay ist es nur eine Abzweigung, dann rollert man mit seinem Bike auf einer Uferstraße entlang, wie sie idyllischer nicht sein könnte. Überall wehen kleine Fähnchen über deinem Kopf, links der Fluss, rechts kleine Häuschen mit Flachdach, kunterbunt bemalt.
Außer uns ist sonst niemand dort unterwegs. Wir halten an. Ich knipse ein paar Bilder, kitschiges Zeug mit Fischern. Dann stolpern wir in ein kleines Fisch-Restaurant, wirklich eher Zufall als gewollt. Die Familie, der das Restaurant gehört, strahlt, als wir das über dem Wasser gebaute Assemblee aus Tischen und Stühlchen betreten. Wir bestellen ein Bier La Rue und ein Glas Rotwein. Die Sonne geht langsam unter; vor uns paddeln die Fischer zurück an ihre Anlegestelle. Ich setze mich auf einen Steg und schaue ihnen zu.
Trà Quế Vegetable Village – wie ein Mini-Knoblauchsland in Vietnam
An unserem dritten und damit letzten Tag in Hội An nehmen wir wieder die beiden Räder, um zum Meer zu fahren. Nun ja, fast. Wir stoppen in Trà Quế, bekannt als Vegetable Village. Angeblich noch so ein "Geheimtipp" – und offenbar stimmt das ausnahmsweise.
Als wir unsere Räder abstellen, sehen wir nur ganz vereinzelt Menschen durch die Felder streifen. Eine Bäuerin tuckert mit ihrem Roller vorbei. Auf der Insel Trà Quế wachsen das Obst und Gemüse Hội Ans. Umgeben von Wasser, dem Fluss Để Võng, sieht das Vegetable Village aus wie eine Miniaturausgabe des Nürnberger Knoblauchslands.
Überall sprießen Salat, Kräuter und allerlei sonstiges Essbares aus dem Boden: Wassermelonen, Spinat, Amarant. Mehr als 40 unterschiedliche Gemüsesorten auf der vergleichsweise mickrigen Fläche von rund 40 Hektar. 200 Familien wohnen auf der Insel. Das Vegetable Village passt perfekt in die Zeit: Alles ist bio. Die Bauern verwenden keinen Dünger, keine Chemie. Kaum zu glauben, so grün wie das hier alles ist. Da wird jeder Hobby-Gärtner neidisch.
Frittierte Frühlingsrollen, rescher Reis, weidende Wasserbüffel
Irgendwann knurrt uns der Magen. Für einen der Kochkurse, die im Vegetable Village angeboten werden, fehlt uns die Zeit. Wobei, nein: Wir hatten einfach zu viel Hunger. Also schwingen wir uns aufs Fahrrad und strampeln gegen den Wind – auf der Suche nach dem nächsten WLAN. Dauert nicht lang "Baby Mustard" ploppt bei TripAdvisor auf, ein kleines Restaurant, direkt am Wasser. Gegenüber grasen die Wasserbüffel im Feld. Drei Frauen sind im Baby Mustard "in charge": Großmutter, Mutter und Tochter.
Auch die Kleinste, quasi die Tochter der Tochter, hilft schon in der Küche mit. Tische und Stühle aus Bambus stehen auf der Terrasse, ein wild flatternder Windschutz hat seine Bestimmung offenbar verfehlt, es zieht wie Hechtsuppe. Außer uns sitzt nur noch ein Pärchen aus England da, später kommt ein einzelner deutscher Tourist und bestellt gefühlt die ganze Karte. Warum auch nicht.
Fast alle Zutaten der angebotenen Gerichte stammen aus dem benachbarten Vegetable Village in Hội An. Bucht man einen der "Cooking Classes", Kochkurse, geht man mit der Familie zur Ernte aufs Feld. Wir bestellen Nem Chay, vegetarische Frühlingsrollen und eine ebenso fleischlose Variante von gebratenem Reis mit Gemüse.
Alles frisch zubereitet, durch ein Plexiglas können wir den zwei Frauen und einem älteren Mann beim Kochen zuschauen. Auch die Füllung der Mini-Frühlingsrollen machen sie selbst: Pilze, Möhren, Sprossen, Keimlinge, Koriander, Thai-Basilikum, Ei. Dauert ein bisschen, wir haben zwar Hunger, aber auch Zeit – und es lohnt sich. Wie alles in Vietnam.
Der letzte Stopp meiner Reise naht
Auf dem Weg zurück in unser Homestay kommen wir wieder an den zahlreichen Reisfeldern vorbei. Bauern und Wasserbüffel durchpflügen ihre Äcker mit teils antik anmutendem Gerät aus zähem Holz. Viele kleine, von Grünzeug fast überwucherte Bewässerungskanäle zerteilen die Felder. Gegenwind. Umso besser. Wir haben ja Zeit.
Alena hatte Recht: Wir haben viele Menschen gesehen in Hội An. Menschen, die mich begeistern konnten, teilweise wohl ohne es selbst zu merken. Wie die Bánh mì-Verkäuferin gegenüber der Kirche Chi Hội Hội An, die mich, einen nach ein paar Glästern Whisky leicht beschwipsten Tourisen, spätabends mit einem Sandwich beglückte. Oder die Familie direkt am Fluss, die uns so herzlich empfing. Und mir noch immer ein Lächeln ins Gesicht zaubert, jetzt, wenn ich diese Zeilen ein halbes Jahr später schreibe.
Am nächsten Morgen geht es mit dem Taxi zurück nach Đà Nẵng, zum Flughafen. Ein Stopp steht noch aus: Sài Gòn, die hypermoderne und rasant wachsende Stadt im Süden Vietnams, früher Hauptstadt des Südens, Stolz des Kapitalismus. Seit 1976, dem Jahr der Wiedervereinigung Vietnams, heißt sie Ho-Chi-Minh-Stadt.
Wie Hà Nội ist auch sie ein Ort der Gegensätze – mit einem großen Unterschied. Unsere Reise führt uns außerdem in die Tunnel von Củ Chi, ein beängstigender, gleichzeitig sehr faszinierender Ort mit einer stolzen, aber auch düsteren Geschichte. Also? Lust auf ein letztes Abenteuer?